Die Inszenierung des Echten

Eine kleine Demontage der großen Authentizität.

Echt ist das neue Perfekt.
Und damit genauso verdächtig.

Während früher alles glatt, gebügelt und „hochwertig“ sein musste, geht’s heute um Kaffeeflecken, verwackelte Videos und das charmant unbeholfene „Hey Leute… ich wollte nur mal ganz ehrlich mit euch sein“.
Es ist der Look von: Ich bin wie du. Echt jetzt. Voll real.

Und doch ist nichts davon zufällig.
"Authentizität" ist heute ein Style. Ein Format. Ein Filter.


Die Ästhetik des Ungefilterten

Ironischerweise muss man heute ganz schön viel filtern, um ungefiltert zu wirken.

Du brauchst:

  • das richtige Licht, das so aussieht, als wär’s dir egal,

  • ein Outfit, das aussieht, als hättest du’s nicht geplant (aber trotzdem perfekt sitzt),

  • und natürlich den perfekt unperfekten Moment, der „einfach so passiert“ ist – und trotzdem im richtigen Format, mit guter Audioqualität und am besten direkt mit Subtitles daherkommt.

Authentizität ist nicht mehr der Gegensatz zur Inszenierung. Sie ist ihre höchste Form.


Das Problem mit der Echtheit auf Knopfdruck

Echtheit ist kein Zustand – sie ist ein Prozess. Du bist echt, wenn du nicht weißt, dass du gerade beobachtet wirst. Du bist echt, wenn du dich selbst vergisst. Du bist echt, wenn du nicht überlegst, wie du wirkst.

Aber was passiert, wenn man beginnt, Echtheit bewusst zu inszenieren?

Wird sie dann zur Lüge? Oder einfach nur zur neuen Form von Ehrlichkeit?

Die Content-Welt liebt es, „nahbar“ zu sein. Man zeigt Tränen. Man spricht über Zweifel. Aber was, wenn das nur die neue Fassade ist?

Die alte Maske war schön.
Die neue ist „verletzlich“.


Warum es trotzdem funktioniert

Weil wir es wollen. Weil wir genug haben von glatten Markenbotschaften und perfekten Körpern im goldenen Licht. Weil wir uns nach Brüchen sehnen, nach echtem Leben, nach dem Ungeplanten.

Und wenn wir das bekommen – auch wenn es nur aussieht wie das Echte – dann gibt es uns trotzdem etwas.

Vielleicht geht es gar nicht darum, ob etwas "wirklich" authentisch ist. Sondern darum, ob es sich so anfühlt.

Die Authentizität im Content ist kein Beweis – sie ist eine Geste.

Eine Einladung: Du darfst mir glauben.
Oder zumindest: Du darfst dich gesehen fühlen.


Zwischen Selbst und Selbstbild

Wenn wir dauernd Inhalte über uns selbst produzieren, dann entsteht irgendwann ein Echo. Ein öffentliches Ich, das sich verselbstständigt. Ein Image, das mehr von dir ist, als du selbst kennst.

Du wirst zur Hauptfigur deiner eigenen Story.
Nur dass du das Skript nicht mehr ganz in der Hand hast. Was passiert dann mit dem, was du eigentlich bist – jenseits der Reels, der Stories, der persönlichen Posts? Wo endet die Inszenierung? Und wo fängt das echte Gefühl wieder an?


Ein ehrlicher Schluss

Nein, dieser Text ist nicht frei von Inszenierung. Auch er will was von dir. Aufmerksamkeit. Zustimmung. Vielleicht ein bisschen Nachhall.

Aber er will dir nicht sagen: „So bist du echt.“

Er will dich nur daran erinnern, dass du es manchmal bist – ganz ohne dass jemand zuschaut.

Und dass vielleicht genau dort, im kleinen, unbeobachteten Moment, etwas wohnt, das kein Content-Format je ganz einfangen kann.

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Verändert Content Creation unsere Wahrnehmung von Realität – oder nur deren Oberfläche?